Marli Huijer schreibt gut und hat viel Gutes geschrieben. In ihrem Buch über Disziplin versucht sie einen großen Wurf – und der gelingt.
Ein großer Wurf zeichnet sich durch große und klare Linien aus. Ich finde es bemerkenswert gut wie souverän sie uns zeigt, was früher unter Disziplin verstanden wurde und wie sich das verändert hat.
Sie geht als Niederländerin anders mit dem deutschen Blick um und zeigt, warum die deutsche Art der Disziplin mit Strafe und Kadavergehorsam selten sinnvoll ist und vor allem nach den Erfahrungen des 2. Weltkriegs im Alltag und in der Arbeit seine Berechtigung verloren hat (außer z.T. wenn es um Leben und Tod geht).
Sie unterteilt nach persönlicher, institutioneller und internalisierter Disziplin und erzählt dann, wann in den Niederlanden was warum dominierte und warum was abgelöst wurde. Foucault, Elias, Sloterdijk und Arendt begleiten sie durch das gesamte Buch und es macht wirklich Freude ihren Gedanken zu folgen.
Das Buch setzt eine gewisse Lesedisziplin voraus, weil jedes Kapitel aus inhaltsvollen Sätzen besteht, die alle sinnerfassend gelesen werden wollen.
Man muß nicht bei jeder Kritik ihrer Auffassung sein, aber allein der nichtdeutsche Blick öffnet dem Deutschen (zumindest in meiner Person) den Blick auf die eigenen gedanklichen Grenzen.
Das Buch ist kein Ratgeber sondern bietet Informationen, die zur eigenen Meinungsbildung dienen. Es setzt also das eigene Denken und die Nutzung des eigenen Verstandes voraus auf der Grundlage substanzieller Gedanken.
Insofern ist das Buch ein sehr disziplinierender Versuch, selbständig weiterzukommen durch die Beschäftigung – die gedankliche Arbeit – mit diesem Buch.
„Jung gewohnt ist alt getan, sagt Luther, womit die Notwendigkeit der Aussage von Sokrates belegt ist, wonach einem das, was man als Kind lernt, stets unauslöschlich im Geiste bleiben wird.“
Dieser Satz aus ihrem Buch gilt nicht nur für das Erlernen von selbstformender Disziplin.
Weiter gedacht außerhalb des Buches gilt dies natürlich auch für die Weitergabe von Kultur.
Wenn in Deutschland z.B. viele Ausländerkinder mit ihrer alten Heimatsprache aufwachsen und die Mütter eher für böse Wörter und disziplinierende Maßnahmen Wörter der deutschen Sprache nutzen, muß man sich nicht wundern, wenn Integration auf dem Müll der Parallelgesellschaften landet.
Aber das ist nicht das Thema von Marli Huijer sondern dies war der gedankliche Transfer von mir.
Das Buch ist eben ziemlich gut einsetzbar für das Verstehen aktueller gesellschaftlicher Zustände:
„Macht und Autoritäten hatten damals überall an Einfluß und Ansehen verloren und die Verachtung für den Staatsapparat gehöre zu den mächtigsten verursachenden Kräften einer Revolution schreibt Hannah Arendt… Eine Menschenmasse bildet sich ihrer Aussage nach nicht, weil zur Revolution .. aufgerufen wird, sondern weil bei einem Großteil der Bevölkerung Unzufriedenheit über die Staatsmacht herrscht und der Respekt vor ihr schwindet.“
So landen wir mitten in unserer Zivilisation und das ist auch gut so. Je tiefer wir in das Buch eindringen, desto klarer wird aber auch noch etwas anderes:
„Wenn Institutionen instabil werden, führt das zu einem allgemeinen Disziplinabbau, der für die niedrigeren sozialökonomischen Klassen nachteiliger ist als für die höheren. Das liegt daran, daß sozial Schwache in solchen Fällen nicht wie Mitglieder der Oberschicht auf die sozialen Verbindungen ihrer Gesellschaftsklasse zurückgreifen können und auch nicht über deren Selbstdisziplin verfügen.“
So erklärt sie quasi im Nebensatz warum der Verlust des „Wir“-Gefühls und damit der Verlust der Arbeiterklasse zum wachsenden Einfluß der Oberklasse führt, die von schwierigen Zeiten u.U. sogar noch profitiert.
Aber das Buch ist noch besser. Denn es zeigt, daß ein Staat wie die Niederlande ihre Bevölkerung im Konsens dazu bringt, damit umzugehen, während in Deutschland der Konflikt mit brutalen Bestrafungen im Jobcenter die totale institutionelle Bestrafung und Unterwerfung impliziert.
Ich bin zwar mit dem Lesen dieses Buch durch aber mit der Wirkung auf mich noch lange nicht.
Großartiges Denken für das eigene Leben und das Verstehen der Zeit, in der wir leben!
Es ist im Theiss-Verlag erschienen.